Billa und das sonderbare Ruderhaus

Dies ist der erste Teil von Billas Geschichten. Billa hat es nicht  leicht. Darum denkt sie sich mit ihrem Freund Nils Abenteuer aus, in denen sie ein Held sein kann. Aber die Wirklichkeit ist viel schwieriger.

Als Selbstlesegeschichte für Kinder ab 9 Jahre, als Vorlesegeschichte auch früher.

 

 

 

1. Teil: Billas Mutter spinnt

Bist du schon einmal auf einem Ausflugsschiff gewesen? Dann weißt du sicher, wie solch ein Schiff aussieht. Oben auf dem Deck stehen Bänke und Tische, man kann in der Sonne sitzen und die Umgebung anschauen. Ein Geländer sorgt dafür, dass man nicht ins Wasser fallen kann. Oder hast du unter Deck in einem großen Raum gesessen, weil das Wetter nicht so schön war? Dort gibt es eine Küche. Darin wird das zubereitet, was die Gäste bestellen. Wenn du auf dem Deck warst hast du auch den Kasten gesehen mit dem Kapitän darin. Der Kasten wird Ruderhaus genannt, denn hier befindet sich das Ruderrad oder auch Steuerrad genannt. Hast du den Kapitän an seiner Kapitänsmütze erkannt?

Ich möchte dir von einem besonderen Schiff erzählen.

Nicht nur das Schiff ist besonders, auch das Mädchen, das darauf wohnt. Ja, tatsächlich! Es gibt Menschen, die auf Schiffen wohnen!  Billa heißt dieses Mädchen. Sie kann so frech werden wie Radaumacherdreck, wenn sie ihre Freunde verteidigen muss. Denn sie ist die beste Freundin, die man sich wünschen kann. Mit ihr zu spielen bedeutet Abenteuer zu erleben. Auch wenn es Billa nicht immer leicht hat mit ihrer Mutter, so verliert sie doch nie ihren Humor oder bleibt heulend in der Ecke sitzen. Sie sagt dann: „Lass uns auf die Reise gehen“, und dann beginnt eine Fahrt ins Land der Fantasie und der Abenteuer.

 Billa wird bald zehn Jahre und wohnt mit ihrer Mutter Hertha Tausendschön schon immer auf diesem alten Ausflugsschiff. Es heißt Libelle und ist ein ganz schön verrücktes Schiff. Von weitem sieht man bunte Farben und Fahnen, Lichterketten und Laternen. Am Abend leuchtet es wie eine Kirmesbude. Am Tag ist es bunt wie ein Zirkus. Auf dem Deck gibt es viele Figuren und Tiere. Sie sehen echt aus, sind es aber nicht. Sogar ein Storchennest sieht man auf dem Dach des Ruderhauses.

Eigentlich liebt Billa das alles und ganz besonders ihre Mutter Hertha, die genauso schön ist wie Billa. Beide haben die gleichen langen, dunkelbraunen Lockenhaare und noch braunere Augen. Aber manchmal denkt sie, dass sie nicht normal ist. Welche Mutter sammelt so viele Dinge? Hertha liebt es, alles auf das Schiff zu bringen, was schön ist. Und das ist ein Problem. Denn sie bringt nichts davon wieder hinunter.

Heute ist Billa sehr wütend. Sie darf morgen einen Freund einladen und soll dafür nur das Ruderhaus als Spielzimmer bekommen. Sie findet das ist viel zu klein und viel zu voll. Hertha sagt: „Sonst ist kein Platz!“

Und nun schleppt ihre Mutter ein Holzpferd den Anlegesteg hinauf. Keuchend stellt sie es auf dem Deck ab.

„Was bringst du da? Ein Pferd?“, ruft Billa und schlägt mit der Hand auf ihre Stirn.

Hertha lacht. „Stell dir vor, ein echtes Karussellpferd. Ist es nicht schön?“

„Du sagst, da ist keinen Platz und ich krieg nur das kleine Ruderhaus. Und dann schleppst du dieses Pferd an“, schreit Billa. „Kannst du mir sagen warum du das machst? Du bist gemein!“

Billa stampft mit dem Fuß auf. „Dong“ macht das Blech des Decks. „Gemein bist du, gemein, gemein!“ Ja, sie ist furchtbar wütend. Schreiend läuft sie die Treppe runter und knallt die Türe zum Unterdeck zu. „Soll dir doch der Wackelpudding auf den Kopf fallen.“ Wackelpudding ist das ekelhafteste, was sie kennt.

Hier im Unterdeck sind Billas und Herthas Kabinen und die Kombüse. Wo früher einmal Reisende gesessen haben ist das Wohnzimmer. Alles ist voller Dinge. Billa läuft an den bunten Hüten, Federboas, schönen Kleidern und Büchern vorbei in ihr Zimmer und wirft sich heulend aufs Bett. Hertha läuft ihr hinterher. „Du hast ja Recht!“ Sie setzt sich zu ihr und streichelt Billa über ihre langen lockigen Haare. „Ich verspreche dich ja, nachher räume ich das Ruderhaus frei.“

„Wirklich? Heute noch?“, fragt Billa ungläubig.

Ehrenwort“, sagt Hertha und hält zwei Finger hoch zum Schwur.

 

Dann ist es so weit. Hertha hat das Ruderhaus leergeräumt und nur das darin gelassen, was ein Kapitän braucht. Sogar eine Kapitänsmütze und eine für den Steuermann gibt es. Aber Billa schimpft. „Das Ruderhaus ist so klein, wie sollen wir denn da richtig spielen?“

„Hast du keine Fantasie?“, fragt Hertha. „Ihr könnt auf große Fahrt gehen. Denkt euch eine Reise aus mit vielen Abenteuern.“

Richtig zufrieden ist Billa nicht. Sie hat ihren besten Freund Nils eingeladen. Ob ihm das gefällt? Als Nils in das Ruderhaus kommt staunt er. „Boah cool! Ein echtes Steuerrad und ein Kompass!“ Er dreht das Rad hin und her, schaut auf den großen Kompass, dann hinaus und befielt: „Nach Norden und dann rechts!“

„Rechts heißt auf dem Schiff Steuerbord“, lacht Billa.

„Und links?“, fragt Nils.

„Links heißt Backbord.“ Billa kennt sich aus. Sie hat eine ganze Liste mit Wörtern aus der Seefahrt.

„Und das hier ist die Kommandobrücke.“ Billa sagt nicht, dass es auf diesem kleinen Schiff eigentlich Ruderhaus heißt. Kommandobrücke hört sich viel besser an.

„Vorne ist der Bug und hinten das Heck.“

„Und wohin geht die Reise?“ fragt Nils.

„Ich weiß nicht? Sollen wir eine Karte ausrollen?“

Hertha hatte eine Kiste voller Landkarten neben den Kartentisch gestellt. Billa zieht eine heraus, rollt sie aus und ist enttäuscht: „Lauter Linien und Zahlen sind darauf. Sollen wir eine andere nehmen?“

Nils greift eine kleinere Karte. Er schiebt seine Brille ein Stück zurück auf die Nase und breitet sie aus. Nils staunt. „Sieh nur, da steht Schatzkarte drauf. Dort müssen wir hin, zur Radaumacherinsel. Sieh nur, hier ist eine Stelle auf der Karte markiert. Schatz, steht da.“

„Oh ja“, ruft Billa. Sie hüpft aufgeregt hin und her. „Dann lass ihn uns suchen.“  Billa wundert sich ein wenig. Wie kommt eine Schatzkarte auf das Schiff?

Wir können uns eine tolle Seeräubergeschichte ausdenken“, schwärmt Nils. „Hast du Lust?“

„Du meinst eine Geschichte mit Fantasie ausdenken? Oh ja, das würde mir Spaß machen. Wer ist der Kapitän?“

Nils streicht sich mit der Hand vor Aufregung seine roten, kurzen Stoppelhaare nach hinten und wird rot. „Darf ich es sein?“

„Okay. Dann bin ich Steuermann!“ Billa reicht ihm eine Mütze. „Nun sind wir eine Mannschaft, du, ich und Smutje Hertha.“

Billa setzt die Mütze des Steuermanns auf.

„Was ist ein Smutje?“, fragt Nils, als er die Mütze des Kapitäns nimmt

„Der Koch“, lacht Billa.

Nun geschieht etwas Seltsames. Billa und Nils denken sich ein Abenteuer aus und sie brauchen gar nicht lange zu überlegen. Sie denken es nicht nur oder erzählen davon. Nein, sie spielen es und erleben es, als wäre es die Wirklichkeit.

 

Auf der Radaumacherinsel

Das Schiff fährt. Der Motor tuckert laut. Wo der Bug durch das Wasser saust, schäumt und spritzt es auf. Die Gischt zieht an den Seiten vorbei. Ein Matrose auf Deck schaut durch ein Fernglas und ruft: „Land in Sicht!“ Nils lacht: „Wir fahren. Echt, wir fahren! Achtung Steuermann, wir sind fast vor der Radaumacherinsel. Der Schatz wird uns gehören!“

„Ei, ei Kapitän!“, antwortet Billa und hält ihre Hand zum Gruß an die Mütze. „Sollen wir Säbel oder Pistolen mitnehmen, falls Piraten auf der Insel sind?“

„Eine gute Idee, Steuermann“, meint Nils. Er sucht überall. „Seltsam“, sagt er, „es gibt hier nur Wasserpistolen. Die können wir nicht gebrauchen.“

Er öffnet die Tür, tritt hinaus und befielt: „Alles klar machen. Wir gehen an Land.“

Billa geht hinaus. Sie ruft: „Achtung wir legen an!“

Noch einmal schauen sie auf die Schatzkarte.

„Der Schatz liegt im Norden der Insel, wir sind hier im Osten. Das ist noch ein weiter Weg“, meint Billa.

„Dann los!“, befiehlt Nils.

Kapitän und Steuermann führen das Schiff vorsichtig an den Kai. Billa lässt die Fender herunter, dicke schwer gefüllte Lederbeutel, die als Polster zwischen Kai und Schiff den Abstand halten sollen. „Anker fallen lassen!“, ruft Billa. Dann dreht sie die Kurbel, die den Anlegesteg hinausschiebt, bis er auf der Kaimauer aufliegt. Nils geht zu einem dicken Tau, der Festmacherleine. An ihm ist ein leichtes, dünnes Seil befestigt. Das wirft er hinaus auf die Kaimauer, läuft über den Anlegesteg auf den Kai und zieht an dem dünnen Seil bis das schwere Tau auf dem Kai liegt. Nun schlingt er die dicke Festmacherleine mehrere Male um einen Poller. Kais Gesicht ist rot von der schweren Arbeit. „Schiff angelegt und gesichert!“, ruft er Billa zu.

Billa kommt ihm über dem Anlegesteg entgegen. „Wer hier wohl auf dieser Insel wohnt?“, fragt sie. Nils zuckt mit den Schultern: „Das werden wir sehen“, meint er und zieht einen Taschenkompass hervor. Den hatte er im Ruderhaus in einer Schublade gefunden.

Er legt nun die Schatzkarte auf den Boden, den Kompass darauf und richtet ihn aus. Nils zeigt auf die Karte.

„Wir sind hier im Osten und müssen in den Norden der Insel. Entweder wir gehen am Ufer entlang, das ist aber ein langer Weg. Oder wir gehen quer über die Insel Richtung Nordwesten. Das ist der kürzere Weg. Aber dann müssen wir bergauf und durch einen Wald.“

Billa zeigt auf die Karte: „Lass uns quer gehen, wir haben ja den Kompass.“ Sie sieht sich um und zeigt in die Ferne auf zwei Berge. „Dort muss es sein, bei den beiden Bergen, die wie der Busen einer schlafenden Frau aussehen.“

Nils nickt und lacht. „Auf zum Busenberg.“

Die Sonne scheint an diesem Tag sehr heiß. Nun gehen sie schon zwei Stunden und haben endlich den Wald am Fuße des Busenberges erreicht. Billa hat großen Durst und Nils hat Hunger. Ein Mischwald liegt vor ihnen mit Eichen, Buchen und Tannen. „Hier muss ein Bach in der Nähe sein“, meint Billa. „Laut Karte kommt er von den Bergen herunter.“

Nach ein paar hundert Metern finden sie einen Bach mit frischem, klarem Wasser. Sie trinken und kühlen ihre heißen Gesichter.

„Schau nur, da am Ufer wachsen Erdbeeren“, ruft Nils und schon läuft er hin und pflückt eine ganze Hand voll.

„Kennst du dich aus mit Beeren?“, fragt Billa. „Weißt du welche giftig sind und welche nicht?“

„Ich kenne nicht alle“, meint Nils, „Ich esse nur die, die ich ganz genau kenne.“ Er wäscht die Beeren im Bach und reicht Billa einen Teil davon. Sie essen und es schmeckt wunderbar. „Jetzt lade ich dich zum Essen ein“, meint Billa lachend. Sie hat ein Stück weiter kleine Sträucher entdeckt. „Blaubeeren“, ruft sie, „die kenne ich ganz genau.“ Beide pflücken so viele davon, bis sie blaue Hände bekommen, waschen sie und essen alle auf. Dann zeigen sie sich ihre Zungen, die so blau sind, als hätten sie Tinte getrunken.

„Schau da“, sagt Nils nach einer Weile, „diesen Stängel da mit den vielen orangen Beeren dran, den kenne ich auch. Das ist ein Aronstab. Die Beeren sind giftig.“

„So gestärkt kann es weiter gehen“, meint Billa und läuft los. Sie steigen durch den Wald den Hügel hinauf.

„Schau dich nicht um Billa“, sagt Nils plötzlich. „Ich weiß nicht was es bedeutet, aber ich glaube wir werden verfolgt. So ein dreckiger Kerl mit langen filzigen Haaren und einem Vollbart beobachtet uns. Seine Kleider sind schmutzig und zerlumpt.  Würdest du nur seine langen, schwarzen Fingernägel sehen, igitigit. Wenn wir an ihm riechen würden, müssten wir sicher ausgespuckt. Aber wir tun so als sehen wir in nicht.“

Billa und Nils kommen keuchend und mit roten Gesichtern am höchsten Punkt der Insel an. Hier gibt es eine freie Stelle, ganz ohne Bäume. Man kann weit über die Insel schauen, bis hinunter zum Wasser. Ein leichter frischer Wind kühlt sie angenehm.

„Dort unten liegt unser Schiff“, Billa streckt den Arm aus.

Mitten auf dem freien Platz liegen dicke Steine zu einem Hügel aufgestapelt. In dem Hügel steckt ein dicker Holzpfahl.

„Sieh nur“, ruft Nils, „da in den Pfahl ist etwas eingeritzt. Als sie näher herangehen lesen sie: „Radaumacherland“.

„Aha, dann wohnen hier wohl die Radaumacher“, lacht Billa. „Ob sie den Schatz hier versteckt haben? Lass uns suchen!“

Der Dreckigkerl hat sie belauscht. Nun verschwindet er und läuft in den Wald.

Nils schaut sich um. „Der Kerl ist weg, gut so“, sagt er.

Noch einmal nimmt Nils die Karte und liest vor:

„30 Schritte von dem Mast

ohne Hast,

geh nach Westen

und am besten

such nach einem Stein.

Darunter wird er sein.

Ein Wort ist in den Stein gekratzt:

Mein Schatz“

 

Nils liest vor und Billa stellt sich an den Pfahl.

„Westen ist da“, zeigt Nils. Billa geht 30 Schritte in die gezeigte Richtung.

„Warte mal“, meint Nils da plötzlich. „Hier steht noch etwas auf der Rückseite. Da hat jemand in einer anderen Handschrift etwas drauf geschrieben:  ‚Seid vorsichtig. Auf der Insel wohnen die Radaumacher. Hütet euch vor ihrer Musik. Manche von ihnen sind Schmuggler, die jeden gefangen nehmen, der die Insel betritt.“

Plötzlich schreit Billa: „Da kommt der Dreckigkerl wieder und hat noch vier andere Radaumacher mitgebracht, genau so dreckig wie er!“

„Fangt den Jungen, er hat die Karte!“, schreit einer. Sie rennen aus dem Wald und auf Nils und Billa zu.

Billa ruft: „Nils, hau ab!“ Beide rennen so schnell sie können und die Radaumacher hinter ihnen her. Sie laufen an den Tannen vorbei. Die Tannennadeln zerkratzen ihnen die Arme. Sie laufen durch die Brombeerhecken. Ihre Stacheln krallen sich in die Hosen und zerkratzen ihnen die Beine. Nils stolpert und fällt hin. Er liegt auf dem Boden. Billa sieht es und will ihm helfen. Nils aber schreit: „Lauf Billa, lauf und hole mich später!“

„Ich werde wiederkommen und dich holen!“ ruft sie und läuft weiter. Aber sie läuft nur so weit, bis die Kerle sie nicht mehr sehen. Denn sie will beobachten, was geschieht.

Nils liegt noch auf dem weichen Waldboden. Da sieht er zwischen den Wurzeln einer alten Eiche ein Loch. Schnell steckt er die Karte und den Kompass dort hinein und schiebt ein paar Blätter drauf.

Schon sind die Radaumacher bei ihm. Sie fassen ihn. Nils ist dünn und leicht. Sie packen ihn am Gürtel und heben ihn einfach hoch. Er zappelt und tritt, schreit und beißt. Aber das alles hilft nicht. Sie fesseln ihn und bringen ihn in ihr Lager. Als sie ihn wegtragen, sieht er noch einmal zu der alten Eiche mit dem dicken Ast. Ein Ast sieht aus wie ein Arm, der seine Muckis zeigt. Das muss er sich merken, um die Karte wieder zu finden.

Billa folgt ihnen unauffällig. „Ich werde dich befreien“, flüstert sie!

Es ist nicht weit. Das Lager besteht aus fünf hässlichen alten Holzbuden, die im Kreis aufgestellt sind. In der Mitte ist eine Feuerstelle. Sie setzen Nils auf den Boden und durchsuchen seine Hosentaschen.

„Wo ist die Karte?“, schreit der Oberradaumacher. „Das sag ich euch nicht! Nehmt euch nur in Acht. Wenn mein Steuermann kommt, habt ihr nichts mehr zu lachen!“ schreit Nils zurück.

„Hahaha“, lachen die Radaumacher und ihre verfilzten Bärte wackeln hin und her. „Deine Billa wird abhauen, wenn wir erst einmal Musik machen. Das hat noch keiner ausgehalten.“

Und schon beginnt der 1. auf eine große Trommel zu schlagen, der 2. nimmt eine Trompete und die Töne, die dort herauskommen sind fürchterlich. Der 3. singt ein grausames Lied, der 4. hat zwei große Becken. Schlägt er sie zusammen scheppert es, dass die Hütten wackeln. Der Oberradaumacher hat eine Trillerpfeife und bläst mit dicken Backen.

Nils möchte sich die Ohren zuhalten. Wie grausam! Da schleicht sich von hinten Billa heran. Sie kriecht flach über den Boden. Die Radaumacher sehen sie nicht. Sie sind zu sehr mit der Musik beschäftigt. Billa steckt Nils zwei rote Kügelchen ins Ohr. Es sind Wiesenknöpfe, die sie gepflückt hat.

„Danke!“, schreit Nils, aber Billa kann ihn nicht hören. Sie hat selbst Wiesenknöpfe in den Ohren!

Plötzlich hören alle mit dem Radau auf. Billa versteckt sich schnell wieder am Waldrand. Es ist still.

„Wo ist die Karte!“, schreit der Oberradaumacher Nils an. Aber der kann nichts hören. „Wenn du nicht reden willst werden wir dich foltern. Dann wirst du uns schon verraten wo die Karte ist. Der Schatz gehört uns. Unser alter Anführer, Käpten Schmuggel, hat alle Schätze hier selbst vergraben. Sie gehören darum uns, den Schmugglern. Ihr habt die Karte gestohlen. Gib sie heraus!“

Nils hat nur in das Gesicht des wütenden Dreckigkerls gesehen, aber nichts verstanden. Er schüttelt seinen Kopf so heftig, dass die Wiesenknöpfe herausfallen. Schließlich muss er wissen, was los ist.

„Foltert ihn, Stufe eins“, schreit einer. Die anderen stöhnen: „Oh, ah, wie schrecklich, er ist doch noch ein Junge!“

Nils bekommt Angst. In seinen Ohren brummt es, wie immer, wenn er sehr aufgeregt ist. Er weiß nicht, dass Billa alles beobachtet und eine Idee hat, wie sie Nils helfen kann. Aber dazu muss sie noch einmal in den Wald zurück.

„Foltert ihn, egal ob er ein Junge ist!“, schreit der Oberradaumacher. Zwei Kerle tragen einen großen Holzkübel in die Mitte. Einer bringt einen kleinen.

„Und los!“, befielt der Oberradaumacher.

Nils zittert. Was sie nur vorhaben? Hoffentlich kommt Billa bald.

Da greift ein Dreckigkerl in den kleinen Bottich hebt einen kleinen gelblich, löchrigen Ball heraus, senkt ihn in den großen Bottich. Als er ihn heraushebt, trieft er getränkt von einer Flüssigkeit.

„Jetzt wascht ihn!“, schreit der Oberradaumacher. „Wascht ihm die Hände und das Gesicht!“

„Oh, ah, nein, nicht das Gesicht, wie schrecklich!“, schreien die anderen Radaumacher. Doch es gibt kein Erbarmen. Nils wird gewaschen. Dann merkt er, dass es nur Wasser ist. Schnell versteht er, dass die Radaumacher fürchterliche Angst vor Wasser und dem Waschen haben. Es gibt für sie nichts Schrecklicheres. Deshalb sind sie auch so dreckig. Da lacht Nils so laut, dass alle rufen: „Seht nur wie er leidet, nein, er wird es nicht aushalten.“

„Wo ist die Schatzkarte?“, schreit der Oberradaumacher ihn wieder an.

„Das sag ich nicht!“, erwidert Nils.

„Dann Stufe zwei, mit Seife!“

„Oh, ah“, rufen die anderen wieder. Aber nun waschen sie Nils die Haare und gießen ihm das Wasser über den Kopf. Nils liebt Wasser. Zwei Mal in der Woche duscht er freiwillig. Sein Lieblingssport ist schwimmen. Er lacht und schreit, damit sie denken, dass er fürchterlich leidet.

„Zum letzten Mal. Wo ist die Karte?“

„Das sag ich nicht!“

„Badet ihn!“

Der Oberradaumacher hat ein rotes Gesicht, zumindest da wo man es unter all dem Dreck sehen kann.

Als sie Nils in den großen Bottich setzen wollen, kommt Billa aus dem Wald gerannt und schreit: „Halt aufhören!“

Sie rennt geradewegs auf die Radaumacher zu. Als Nils sie sieht, erschrickt er. Billa ist ganz blau im Gesicht und an den Händen. Aber dann macht Billa eine Bewegung, als würde sie Beeren essen. Da weiß Nils Bescheid. Sie hat sich mit den Blaubeeren eingefärbt.

„Halt!“, schreit sie wieder!“

„Packt sie und steckt sie in den Kübel!“, befiehlt der Oberradaumacher.

Billa stemmt ihre Fäuste in die Hüften und sieht die Schmuggler böse an.

„Das würde ich nicht tun, wenn ihr euch nicht mit der Blaumarottentuckenbockkrankheit anstecken wollt. Sie ist sehr gefährlich und kann nur verschwinden, wenn man täglich dreimal badet.“

„Iih, wie furchtbar, nein, wie schrecklich!“, schreien alle Schmuggler durcheinander. Sie gehen immer weiter zurück. Schließlich rennen sie in ihre Hütten und verstecken sich.

Billa löst Nils die Fesseln.

„Das war super von dir, Billa“, sagt er. „Jetzt müssen wir noch zu der Eiche mit dem Muckiarm. Dort habe ich die Karte und den Kompass versteckt. Dann können wir uns den Schatz holen.“

Weil die Radaumacher bibbernd in ihren Hütten bleiben, können Billa und Nils in aller Ruhe den Schatz suchen. Unter einem der Steine ist ‚Mein Schatz‘ eingeritzt. In der Erde darunter finden sie ein silbernes Kästchen.

„Lass uns zum Schiff gehen, wir öffnen es dort in aller Ruhe“, sagt Billa und Nils ist einverstanden. Das ist gut so, denn der erste Radaumacher traut sich schon wieder aus seiner Hütte heraus.

Als sie auf dem Schiff ankommen ruft der Smutje: „Das Essen ist fertig. Kommt in die Kombüse!“ Er hat einen dicken Bauch und raucht eine stinkende Zigarre.

Ja, sie haben einen gewaltigen Hunger. Deshalb eilen sie die Treppe hinunter. Dort duftet es so lecker, dass ihnen der Magen knurrt und das Kielwasser im Mund zusammenläuft. Sie stellen das silberne Schatzkästchen mitten auf den Tisch. Der Smutje kommt mit einem großen Teller Pfannekuchen und stellt sie neben das Kästchen. Auch wenn beide großen Hunger haben, die Neugier siegt. Vorsichtig öffnen sie den silbernen Riegel, dann den Deckel und finden darin einen goldenen Schlüssel und einen Zettel. Billa nimmt ihn heraus und liest vor:

 

„An meine Freunde, die Radaumacherschmuggler! Dieser Schlüssel öffnet die Pforte zur Schatzkammer des Maratukkenkönigs. Ich habe ihn gestohlen. Er ist sehr wertvoll. Wer ihn dem König wiederbringt erhält eine große Belohnung. Ich wollte ihn aber nicht zurückgeben. Ich wollte seine Schatzkammer ausrauben. Leider werde ich nicht mehr dazu kommen. Tut euer Bestes! Viel Glück wünscht euch euer Käpten Schmuggel.

 Dann wissen wir ja wohin die nächste Reise geht“, lacht Billa. „Lass uns jetzt essen.“

Als Nils und Billa ihre Mützen abnehmen, ist ihre Geschichte zu End. Billa ist nicht mehr blau und der Smutje ist Hertha ohne dicken Bauch und Zigarre.

„Habt ihr eine gute Reise gehabt?“, fragt Hertha. „Ich habe Pfannekuchen mit Blaubeeren gebacken.“

„Es war toll“, lacht Nils.

„Wir haben die Schatzkarte im Ruderhaus gefunden und uns eine Geschichte ausgedacht, den Schatz gesucht und auch gefunden“, erzählt Billa.

„Die Schmuggler haben mich gefangen und wollten mich foltern. Aber Billa hat mich befreit. Als wir die Mützen angezogen haben hat die Geschichte angefangen. Wir haben uns etwas ausgedacht. Nils hat so tolle Ideen. Wir konnten eine richtige Abenteuergeschichte erleben.“

„Ich weiß“, nickt Hertha, „ging mir früher auch so. Ich bin mit meinem Vater auch auf große Fantasie-Reisen gegangen. Immer wieder haben wir uns neue Geschichten ausgedacht und sie gespielt. Es war die schönste Zeit meiner Kindheit.“

„Wie kann das sein, dass es sich so echt anfühlt?“, will Billa wissen.

„Vielleicht weil ihr es euch so gut vorstellen könnt. In der Fantasie wird alles echt“, lacht Hertha.

Billas Mund bleibt offenstehen: „Wirklich?“

Von diesem Tag an findet sie das Ruderhaus gar nicht mehr zu klein. Wenn man von dort aus ins Land der Fantasie reisen kann und solche Abenteuer erlebt, ist es doch wohl das größte Kinderzimmer der Welt.

Als Nils gehen muss, bringt Billa ihn noch den Landungssteg hinunter. „Was ist mit dem Vater deiner Mutter, deinem Opa?“, fragt er Billa.

„Er ist tot, meine Oma auch. Sie starben bevor ich geboren wurde. Ich kenne sie gar nicht“, meint Billa. „Warum fragst du?"

Nils sieht Billa an: „Deine Mutter wurde so traurig, als sie von ihrem Vater erzählte.“

 „Ja, das ist sie manchmal“, nickt Billa.

 Aber dann lacht sie: „Ich freu mich schon auf die nächste Fahrt zum Maratukkenkönig. Fährst du wieder mit, auf Schatzsuche?“

 „Na, klar“, grinst Nils, „wer so einen cleveren Steuermann hat, fährt immer mit!“

 

Anhang: Billas Seefahrer-Wörterbuch

Anlegesteg: eine kleine Brücke, die vom Schiff auf die Hafenmauer führt. Sie hat Bretter, auf denen Leisten quer befestigt sind, damit man nicht ausrutscht, denn die Brücke liegt meist etwas schräg. An den Seiten gibt es Stangen, durch das ein Seil gespannt ist, damit man sich festhalten kann und ein Netz, damit niemand ins Wasser fällt. Der Anlegesteg wird herausgekurbelt.

Anker: ein schwerer Eisenhaken an einer schweren Eisenkette. Er wird mit einer Kurbel heruntergelassen und hält das Schiff auf Position.

 Backbord: in Fahrtrichtung schauend die linke Seite des Schiffes

 Fender: dicke, gefüllte Säcke, die an der Seite des Schiffes herunterhängen, damit das Schiff polstern damit die Kaimauer es nicht zerkratzt.

 Festmacherleine: ein sehr dickes, schweres Tau. Damit wird das Schiff an die Poller angebunden.

 Gischt: ist das ausprudelnde Wasser, das am Bug vorbeizieht, wenn das Schiff auf Fahrt ist.

 Kai: Die Hafenmauer

 Kapitän: der Boss auf dem Schiff und für alles verantwortlich.

 Kombüse: die Küche

 Kommandobrücke: bei sehr großen Schiffen, da wo der Kapitän ist und alles dirigiert, wo der Kartentisch ist und das Steuerrad. Von hier aus gibt der Kapitän die Kommandos.

 Landungsbrücke: wie der Anlegesteg führt er auf die Kaimauer. Landungsbrücke heißt es bei großen Schiffen und ist eine hohe Treppe, die hinauf auf das Schiff führt.

 Matrose: ein Schiffsarbeiter

 Mukkis: dicke Muskeln an den Oberarmen, die Bizeps.

 Poller: dicke runde Eisenpilze, um die das Tau geschlungen wird.

 Ruderhaus: wie die Kommandobrücke der Raum für den Kapitän, aber kleiner, weil das Schiff auch kleiner ist. Hier ist das Steuerrad, das auch Ruderrad genannt wird.

 Ruderrad oder auch Steuerrad: Mit ihm wird das Schiff gelenkt.

 Steuerbord: in Fahrtrichtung schauend, die rechte Seite des Schiffes (kleine Eselsbrücke: Steuerbord, rechts – Backbord links - wenn du einem eine Backpfeife gibst, ist es in der Regel die linke Backe.)

 Steuermann: mit dem Kapitän der wichtigste Mann oder die wichtigste Frau auf dem Schiff. Der Steuermann ist für die Navigation verantwortlich. Das heißt er muss das Schiff in die richtige Richtung steuern.

 Smutje: der Schiffskoch

 Tau: ein Seil, das so dick sein kann wie ein Arm und besonders schwer ist.

 Taschenkompass: Im Gegensatz zu dem festen Kompass im Schiff, ist dies ein kleiner, den man zur Orientierung  mit an Land nehmen kann und in die Tasche stecken.