Walpurgisnacht

Valentina Elektra Bianchi – Alles für Ihr Glück

Valentina meinte: „Der Mensch ist voller Irrtümer und falscher Ideen, jagt den äußerlichen Dingen nach und lässt seine Sinne täuschen. Das Leben ist nur dazu bestimmt, der Wahrheit ein wenig näher zu kommen und es braucht viele Leben, um am Ende bei sich und der Erkenntnis anzugelangen.“

Lasst mich von ihr erzählen, meiner Freundin mit der besonderen Gabe zur Polarisation.

Sie wohnte in einem alten Fachwerkhaus und hatte in den unteren Räumen einen Esoterikladen eingerichtet. Weiße Hexe nannte sie sich und lebte vom Verkauf der Dinge, die die Menschen glücklich machen sollten. Elektra las aus der Hand und schrieb Artikel für die esoterische Zeitschrift „Freier Flug“. Von Zeit zu Zeit verschwand sie. Niemand wusste wohin und warum. Die einen glaubten, dass sie für die Zeitschrift unterwegs sei, die anderen glaubten sie treffe sich mit anderen Hexen.

Die Nachbarn sagten: „Das ist alles Unsinn, reiner Kommerz, um den Krempel zu verkaufen.“ Dennoch sah man die Furcht in ihren Gesichtern. Die Ablehnung und der Wunsch: „Diese Elektra muss weg“, wurde von einigen Nachbarn offen ausgesprochen.

Valentina, Elektra, Bianchi war damals achtundzwanzig Jahre, sehr groß, schlank, fast dürr, hatte lange lockige Haare wie eine Löwenmähne. Sie lächelte immer und schwieg meist geheimnisvoll. Um dem Bild der allgemeinen Vorstellungen zu entsprechen, hatte sie ihre dunkelblonden Haare mit Henna rötlich gefärbt. Wie eine Fee aus dem Märchenland trug sie meist verspielte, rüschen- und spitzenbesetzte Kleider. Allein ihre flachen, verspielten Ballerinas, Dianetten oder Espadrilles ließen vermuten, dass sie noch Bodenhaftung hatte. Fast kindhaft naiv, wie eine Fünfjährige, die Mamas Schmuckkästchen ausprobiert, trug sie viele, lange Ketten, Armbänder und Schleifen, ein Tuch im Haar, das ihr die Strähnen aus dem Gesicht hielt. Allerdings war sie alles andere als naiv.

Sie hatte Pädagogik studiert, dann Philosophie und Kristallografie. Das alte Fachwerkhaus war ihr Elternhaus und seit zweihundertfünfzig Jahren im Besitz der Familie. Sie hatte es geerbt. Statt einen Beruf innerhalb ihrer Ausbildung anzunehmen, hatte sie diesen Laden eröffnet.

 Valentina hatte ein Geheimnis. Sie offenbarte es mir in jener Zeit, als die Übergriffe ihrer Nachbarn, die psychischen und physischen Angriffe auf sie immer heftiger wurden. Dabei hatte sie ihnen dazu gar keine Veranlassung gegeben. Sie hatte ihnen lediglich von ihren Feststellungen erzählt: „Ich habe herausgefunden, dass alles, was man sich vorstellen kann, geschehen kann. Wenn man daran glaubt einen Stift zum Schreiben zu bringen, ohne ihn anzufassen, dann ist das möglich. Man muss es nur glauben. Ich weiß eine Menge über diese Dinge.“

Sie glaubte sogar, dass alles das, was Menschen erfunden haben deshalb Wirklichkeit wurde, weil sie es sich vorstellen konnten. Es wäre möglich gewesen, sich auf eine alte Tür zu setzten, sich vorzustellen, dass sie fliegt und schon wäre sie geflogen, hätte man es nur geglaubt. Da es aber niemand für möglich hält, hätten diese Konstrukte herhalten müssen, die es erklären, Berechnungen, Zeichnungen, Modelle, Experimente. Dies alles hat lediglich dazu gedient, einen Glauben daran zu erzeugen, dass es möglich sei.

„Alles ist möglich. Glaube kann Berge versetzen und das im wörtlichen Sinne“, sagte sie mir und dass sie Gedanken lesen könne, nicht wörtlich, aber doch schon relativ genau, dass sie Visionen habe, hellsehen könne und tatsächlich mit Kraft ihrer Gedanken Dinge zu bewegen verstehe. Aber dies sagte sie nur mir, Sofia und Eleonore, ihren engsten Freundinnen.

Ein halbes Jahr nach dieser Offenbarung erzählte man sich in Valentinas Straße: „Valentina trifft sich regelmäßig mit anderen Gleichgesinnten. Gemeinsam experimentieren sie mit Glaubensvorstellungen. Sie sitzen in Feuern, ohne zu verbrennen. Sie schweben über dem Wasser, ohne unter zu gehen. Sie denken sich an einen Ort und schon sind sie da. Nur manchmal machen sie sich den Spaß und reiten auf Besen durch die Luft.“

Als Valentina davon hörte, machte sie sich ein Vergnügen daraus, erkannte sie doch nicht die weitreichenden Konsequenzen, die diese Gerüchte für sie haben würden. Sie erzählte Frau Binsenmeier: „Wir stellten in unseren Experimenten fest, je globaler die Veränderungen sind, die man sich vorstellt, umso mehr Menschen müssen daran glauben. Ein Einzelner könnte nicht den Grand Canyon zuschütten, aber wenn eine ganze Nation daran glaubt, könnte es geschehen, ohne Bagger, Schaufeln und Raupen. Heute brauchen wir diese Geräte noch, um es wahr werden zu lassen, aber irgendwann wird dies nicht mehr nötig sein. Erzählen Sie niemandem, dass wir schon große Erfolge mit unseren Experimenten haben, denn wir haben uns einen Schwur geleistet, diese Kraft, die jedem Menschen zu eigen ist, nicht populär zu machen. Welch ein Unglück würde es bringen, wenn jeder es zu nutzen wüsste.  Die Menschheit ist noch nicht reif dafür“, meinte Valentina Elektra Bianchi.

Zunächst führte dieses Gespräch dazu, dass es durch Frau Binsenmeier in die ganze Stadt getragen wurde. Das wiederum hatte einem regen Umsatz in Valentinas Laden zur Folge. Jeder wollte die Hexe sehen, auch wenn angeblich niemand glaubte, dass sie zaubern könne. Dennoch erwarb man Liebestränke und Amulette für das Glück im Beruf und im Leben, kaufte gleich einige Lose dazu.  Man bannte böse Blicke der Schwiegermütter mit Halbedelsteinen, die in Silberfassungen zwischen den Brüsten hingen und kaufte Tücher mit Runenschriften zur Abwehr von Krankheiten.

Valentinas Kasse füllte sich. Männer schlichen am Abend ums Haus, wollten einen Blick erhaschen, wenn sie in ihrer Wohnung umherlief. Eine Frau, die Liebestränke brauen konnte, wüsste sicherlich auch von den heimlichen Wünschen der Männer.

Die Frauen kamen am frühen Morgen sobald die Männer aus dem Haus waren und kauften Spiegel, die ihre wahre Schönheit zeigen sollten, Cremes und Düfte aus Muskatlilien, Maiglöckchen und Veilchen. Und tatsächlich! Sahen sie in diesem Spiegel nicht wirklich schöner aus? Bald kamen sie aus der ganzen Stadt. Valentina hatte Mühe die Ware herbeizuschaffen. Sonst brachte sie sie von ihren Reisen mit, aber nun bestellte sie sie bei ihren Händlern.

Es war am dreißigsten April. Valentina hatte zusammen mit einigen Gefährtinnen eine Walpurgisnacht organisiert. Auf der Burgruine in der Südstadt wurde ein Feuer entfacht, Geschichtenerzählerinnen, Musikerinnen mit mittelalterlichen Instrumenten und Sängerinnen waren engagiert. Es gab Met und Wein, Brottaschen mit Gemüse und Schafskäse, Spanferkel und Grillwurst. Feuertänzerinnen zeigten bei einbrechender Dunkelheit ihre aufregenden Kunststücke, drehten und jonglierten Feuerstäbe und brennende Ringe über und um sich, trugen Feuerkronen auf ihren Köpfen. Valentina bot Amulette aus Halbedelsteinen an, die das Auffinden von Verlorenem bewirken sollte.

Regina, die Frau des Bürgermeisters lachte. „Das ist der größte Schwachsinn“, hatte sie geprustet. „Ich verstecke mich heute Abend und wenn ihr mich mit Hilfe des Steines findet, kaufe ich sie alle.“ Niemand nahm sie ernst, so wie sie auch sonst nie ernst genommen wurde.

Im Laufe des Abends verschwand sie. Einige machten sich den Spaß sie zu suchen. Weil das Spiel aber langweilig wurde, als man sie nach einer Stunde nicht fand, hörten sie auf. Das alles wäre nicht erwähnenswert, wäre Regina nicht verschwunden geblieben.

Entgegen aller Logik beschuldigten sowohl der Bürgermeister als auch ein Teil der Menschen aus der Stadt Valentina: „Sie hat Regina verschwinden lassen!“

„Welches Motiv sollte ich dazu haben?“, entgegnete Valentina. „Hätten wir sie wiedergefunden, hätte sie allen Schmuck gekauft. Also warum sollte ich das tun?“

Die Polizei ermittelte in alle Richtungen, Mord, Selbstmord, weggelaufen, verunglückt, aber Regina blieb spurlos verschwunden. Keine Spur, keine Verdächtigen, keine Leiche.

Valentina erhielt zunächst Briefe mit Beschimpfungen, dann wurden daraus Drohungen und schließlich die Ankündigung sie „auf dem Scheiterhaufen“ zu verbrennen. Das gutgehende Geschäft erlitt großen Schaden, denn niemand wollte mehr bei ihr kaufen. Die Realdenker, weil sie mit Esoterik noch niemals etwas anfangen konnten und die anderen, weil sie fürchteten man könnte sie als Komplizen von Valentina beschuldigen.

Im Verlauf des Jahres erhärtete sich der Verdacht, dass man bis zur nächsten Walpurgisnacht warten müsse. Woher diese Weisheit kam, war genauso wenig auszumachen wie die Quelle der Drohbriefe und Gerüchte. Sicherlich würde man in der nächsten Walpurgisnacht, wenn das Zeitfenster wieder da sei, Regina finden.

Vorbereitungen wurden getroffen für ein großes Walpurgisfeuer. Allerlei Rituale, die in vorchristlichen und christlichen Zeiten üblich waren, wurden wiederbelebt. Zum Schutz vor der Hexe Valentina streute man Salz auf Türschwellen. Man stellte Reisigbesen mit der Kehrseite nach oben auf, legte Kräuter unter die Fußmatten, hing Hagebuttenkränze auf. Um sich davor zu schützen, verhext zu werden, stellte man Farnkraut in die Vasen.

Das Walpurgisfeuer wurde mit großer Sorgfalt geplant und entfacht. Es sollte alles Böse fernhalten und vertreiben, wozu man nur die neun heiligen Hölzer nahm, die Hasel, Erle, Birke, Eberesche, Eiche, Ulme, Wacholder, Eibe und Lärche.  Der Schreiner Ludwig baute eine hölzerne Hexe, die verbrannt werden sollte. Man gab ihr den Namen Valentina. Den traditionellen Maisprung sollten die jungen Männer und Frauen durchführen, wenn das Feuer heruntergebrannt ist. Beim Sprung über die Glut durfte ein jeder sich etwas wünschen. Da der Bürgermeister zu alt und ungelenkig für einen Sprung war, wollte sein Sohn den Sprung vollziehen und sich dabei Reginas Wiederkehr wünschen.

Für Valentina dachte man sich eine Besonderheit aus. Man wollte sie reinigen. Kritiker dieses gesamten Vorhabens ließen laut verkünden, dass dies alles reiner Blödsinn wäre und man doch bitte nicht wieder ins Mittelalter verfallen solle. Der Landrat riet von solch einem Vorhaben ab, da man nicht wisse, wie sehr es die Gemüter erhitzen werde. Er fürchtete, wie sich später herausstellte mit Recht, dass der Aberglaube zu emotionalen Auswüchsen führen könne, wenn nicht sogar Hysterie. Aber verbieten wollte er ein traditionelles Fest nicht.

Der Mob ließ sich nicht mehr aufhalten. Hinter verschlossenen Türen beschloss man zwei Maifeuer zu entzünden und Valentina entsprechend des alten Rituals zwischen diesen Feuern hindurchzuführen. Dies bewirke eine Reinigung, die ihr hoffentlich ihre Hexenfähigkeiten austreiben würde. Würde sie es nicht freiwillig tun, würde man es auch erzwingen.

Valentina war nicht nur meine Freundin. Es gab viele Frauen, die ihr sehr zugetan waren und verständnislos, ja sogar wütend über so viel Dummheit, nach einem Weg suchten Valentina zu helfen. Sofia und Eleonore waren es denn auch, die die Getränkevergabe an sich rissen, Kräuterbier und Maibowle anboten, wovon auch kräftig Gebrauch gemacht wurde. „Sie sollen morgen mit einem Kopf aufwachen, der sie hundert Jahre daran erinnert, wie dämlich sie waren“, meinte Sofia.

Es war kurz vor Mitternacht, die meisten waren bereits reichlich angetrunken, da wurde Valentina abgeholt und mit Gewalt zu den Maifeuern geführt. Diese waren bereits heruntergebrannt und die jungen Leute vollführten ihre Maisprünge mit ihren Wünschen auf den Lippen. Valentina blieb ruhig, war fast lethargisch.

Zwei kräftige Kerle führten Valentina zwischen die beiden Feuer, drohten ihr, wenn sie den Platz verlasse, würde sie brennen. Benebelt von den Tränken, übermüdet von den Sprüngen standen sie da, sahen Valentina an. Hofften sie vielleicht, dass irgendetwas von ihr abfalle wie ein Kleid, dass es eine sichtbare Reinigung gäbe? Sofia und Eleonore standen am Feuer und sangen leise: „Sieh doch, wie sie fliegt, so leicht so hoch so unbeschwert. Sieh doch wie sie fliegt.“

Sie wiederholten es wie ein Mantra und bald schon meinten die ersten sie würden sehen, das Valentina schwebe, sich vom Boden abhebe, höher und höher steige. Sofia stocherte mit einem Stock in der Glut. Funken stoben in die Höhe. Das Mantra erklang lauter und je lauter sie sangen, umso höher stieg Valentina, bis sich schließlich eine beißende Rauchwolke aus der Glut erhob, angefacht durch Eleonoras grünes Tannengezweig. Als der Rauch sich verzogen hatte, war Valentina verschwunden und sie blieb es.

Im Sommer des folgenden Jahres tauchte Regina wieder auf. Sie versuchte wieder Einzug in das Haus des Bürgermeisters zu erhalten. Im Ausland sei sie gewesen, gereist, habe sich die Welt angesehen. Das enge Dorf mit seinen seltsamen Vorstellungen sei sie so furchtbar leid gewesen.

Sofia und Eleonore eröffneten Valentinas Laden wieder. Auch sie will man auf einem Besen über dem Haus fliegend gesehen haben. Auch sie verschwanden von Zeit zu Zeit für einige Tage. Valentina, Elektra, Bianchi aber kam nicht wieder. Sie lebt heute - nein, ich werde es euch nicht verraten. Sucht sie selber. Sucht sie in der Walpurgisnacht unter den fliegenden Hexen. Ihr wisst ja, es ist alles möglich.

 

„Man sieht, was man glaubt“, sagte Valentina einst. „Es braucht eben viele Leben, die Irrtümer und falschen Ideen durch die Wahrheit zu ersetzen und es braucht viele Leben zu sehen was man nicht glaubt und zu glauben was man nicht sieht.“