Martha im Zweifel

„Sie benutzt mich“, sagte Martha zu ihrem Mann. Die Lachfältchen um seine Augen verrieten, dass er sie nicht ganz ernst nahm. „Na klar“, antwortete er verschmitzt. „Sie bezahlt dich ja auch ganz gut dafür.“

„Du weißt wie ich das meine“, gab sie schnippisch zurück, denn sie hatte jetzt gerade keine Lust auf seine Spielchen. „Sie bezahlt mich für das Reinigen der Wohnung, die Arztfahrten, Einkäufe, ihre Pflege und ihre Launen. Was ich meine, sie benutzt mich darüber hinaus als Objekt. Sie betrachtet mich wie ein Ornithologe die Vögel und dann schreibt sie über mich.“

„Und?“, fragte Paul.

„Ich weiß nicht, ob ich das zulassen soll. Mir gefällt das nicht“, brummte sie.

Ihre Gedanken wanderten ein Jahr zurück, zu dem ersten Tag ihrer Begegnung mit Frederike. Sie hatte sich auf eine Stellenanzeige als Haushälterin und Gesellschafterin gemeldet und eine Einladung zur Vorstellung erhalten. Sie fand vor, Frederike, eine Schlaganfallpatientin, halbseitig kraftlos aber mit spitzer Zunge und scharfem Verstand. „Frederike Munzig, Feministin!“, sagte sie so, als wäre das ein Titel. Martha verstand nicht was sie damit sagen wollte. Später fragte sie ihren Mann, ob er wisse, was sie damit gemeint haben könnte. Auch damals hat er sie nicht ganz ernst genommen. „Das sind doch die, die in den Sechzigern die BHs ins Feuer geworfen und Freiheit meinem Busen‘ gerufen haben, so wie diese Alice Schwarzenegger.“ Und seine Lachfältchen erreichten unendliche Tiefen.

„Du meinst Alice Schwarzer, die Herausgeberin von Emma? Die hat nichts mit dem Schwarzenegger zu tun“, hatte sie damals belehrend geantwortet. „Nein? Ach?“, scherzte Paul zurück. „Ist sie nicht sein Bruder?“ Sein Lachen wurde nun so breit, dass sie es endlich begriff. Er spielte.

„Diese Munzig“, meinte sie „sagt das, als wäre es eine Profession. Ich dachte immer es sei eine Einstellung, eine Weltanschauung vielleicht noch. Schließlich sage ich doch auch nicht ich bin Familistin.“ Ja, Frederike gab ihr von Anfang an immer wieder zu denken.

Paul riss sie aus ihren Erinnerungen. „Was befürchtest du denn, wenn sie über dich schreibt?“

Sie überlegte: „Ich weiß nicht. Es ist mir einfach unangenehm. Ich fühle mich zum Objekt degradiert, abgewertet, wie ein Affe im Käfig. Es verunsichert mich. Aber ich muss los, bis heute Abend!“ Sie drückte Paul einen Kuss auf die Wange und verließ das Haus.

Als sie bei Frederike zur Tür hereinkam, krähte diese: „Wohl mal wieder dem Papi die Butterbrote geschmiert, was?“ Dabei schaute sie demonstrativ auf die Uhr.

„Nicht antworten“, dachte Martha.

„Und? Welche Meinung hat deine bessere Hälfte zu den Wahlergebnissen in Bremen?“, fragte Frederike, während Martha ihr aus dem Bett in den Rollstuhl half.

„Darüber haben wir gar nicht gesprochen“, antwortete Martha ehrlich. „Wir hatten wegen Reginas Studentenwohnung noch so viel zu klären. Das Semester fängt in zwei Wochen an und sie hat noch nichts drin. Kevin hatte Fußballturnier, da habe ich für die Vereinsfeier gebacken. Und Mutter musste zum Frisör. Die Familie hat uns voll und ganz beansprucht.“

„Arme Martha“, seufzte Frederike und Martha wusste nicht, ob sie es ernst meinte oder ob sie mal wieder Giftpfeile auf sie abschoss.

Während Martha ihre Arbeit tat, schrieb Frederike mit ihrer rechten, noch funktionstüchtigen Hand, in ihre Kladde. Die linke Hand wurde in einer Schlinge vor Ihrer Brust gehalten, damit sie nicht tot herumbaumelte.

„Sie schreibt wieder über mich“, dachte Martha. „Sicherlich lässt sie sich darüber aus, dass ich mich nicht so für Politik interessiere wie sie, gießt ihr Gift aus über mich!“

„Warst du jemals im Ausland?“, fragte die Giftpfeilakrobatin unerwartet, während ihre Gesellschafterin gerade mit dem Kopf in der Eckspüle steckte, um sie auszuwaschen.

Sie stieß sich die Stirn, kam hervor und antwortete: „Ja, in Holland. Wäre gerne mal nach Ägypten. Hat aber bisher nicht geklappt. Vielleicht später mal.“ Sie steckte den Kopf wieder in das Loch.

„Warum fährst du nicht einfach?“, rief ihr Frederike nach.

Das Loch war nun sauber und Martha kam hervor. „Weil ich Verantwortung habe, meine Familie und Mutter brauchen mich. Regina, na ja, die ist schon groß aber Kevin noch nicht und Paul kann beruflich nicht weg. Außerdem brauchen wir das Geld für die Ausbildung der Kinder. Du weißt doch wie das bei uns ist, alles eben nicht so einfach.“ Aber sie bezweifelte ob die kluge Fredericke das verstehen wollte.

So antwortete diese auch: „Ich habe immer getan was mir gefiel. Ich war in den USA, Südafrika und Südvietnam, habe am Nordkap mit Freunden Wetterleuchten gesehen, war auf jeder Demo dabei. Du hast nichts gesehen. Wie kann man nur so unpolitisch sein?“

Martha schwieg und dachte: „Achtung Giftpfeile!“

Frederike grinste. „Hattest du eigentlich noch andere Männer? Oder war Paul der erste und einzige?“

Jetzt reichte es ihr. „Das geht nun wirklich zu weit und dich gar nichts an. Was weißt du denn schon über Treue und Beständigkeit, jemandem ganz und gar zu vertrauen! Du mit deinen drei Abtreibungen und zwanzig Liebhabern, deinem kinderlosen, familienfeindlichem Leben.“

Martha sprudelte allen angestauten Frust heraus und redete sich in Rage. „Du mit deiner sarkastischen Sicht auf die Welt und auf mich und deinem bissigen Gekritzel. Oder meinst du ich weiß nicht, dass du über mich schreibst, spüre nicht wie du deine Giftpfeile auf mich abschießt. Weißt du was? Es reicht mir! Ich mache Schluss hier. Suche dir eine andere Hilfe, über die du dich auslassen kannst!“

Martha packte ihre Sachen, ließ die verdutze Frederike sitzen und ging. Zu Hause angekommen weinte sie vor Wut und was viel schlimmer war, wegen ihrer Selbstzweifel. Vielleicht hatte Frederike ja Recht und sie verplemperte ihre Zeit mit diesen Alltagsbanalitäten, diesen Ks, Kinder, Küche, kochen, Kleinkram, keine Kariere. Ja, die großen Dinge tat sie wirklich nicht. Ihr Leben erschien ihr in diesem Moment so winzig, ärmlich und dumm.

Am späten Nachmittag, nachdem Paul ihr ohne Lachfältchen lange zugehört hatte, klingelte es an der Haustür. Paul öffnete und brachte ein Päckchen herein.

„Für dich, hat ein Fahrradkurier abgegeben“, sagte er und reichte es Martha. Sie entpackte das, in die Titelblätter des Spiegel, eingeschlagene Etwas. Es war Marthas Kladde mit einem Post-it darauf.

„Geh nicht, lies bitte!“, lautete die Notiz. Paul und Martha sahen sich fragend an. Martha öffnete sie. Auf der ersten Seite lag ein loses Blatt. In fein säuberlicher Handschrift stand darauf geschrieben:

Liebe Martha,

ja, mein Leben war bis zu meinem Schlaganfall gut, schnell, gewaltig und aufregend.

Aber ich würde gerne tauschen:

Wetterleuchten am Nordkap für ein Fußballturnier meines Sohnes, Südvietnam für einen treuen Mann, der kein Geld für Abtreibungen hat.

Mein 172 qm – Loft für die Studentenbude meiner Tochter.

Meine Giftpfeile für eine Freundin.

Mein kleines, spannendes Leben für dein großes.

Deine Frederike